Meine Stimme hat eine magische Wirkung. Keine andere Vogelstimme hat so viele Märchen, Mythen und Lieder inspiriert wie meine. Selbst Chopin und Beethoven waren so verzaubert von meinem Gesang, dass sie versucht haben mich in ihren Kompositionen zu verewigen.
Kein anderer Vogel hat solch eine gewaltige Stimme und vielfältiges Repertoire wie ich. Mein Gesang ist kein gewöhnliches Konzert – er gleicht eher einem Medley als einer Melodie, eher Free-Jazz als Klassik. Eine Aneinanderreihung losgelöster Sätze, mal metallisch, mal zirpend, mal elektronisch, mal trillernd.
Pulsierend und sich ekstatisch steigernd, mit kurzen Verschnaufpausen - kleine Momenten der Stille nach jedem Satz. Der Jazzmusiker David Rothenberg umschreibt meinen Gesang treffend mit den Worten: “I have no doubt that it is music, but an alien music, another species’ groove, a challenge for humans to find a way into.” Für menschliche Ohren klingt mein Gesang wie etwas Überirdisches – als kämen meine Melodien nicht von dieser Welt.
Während die allermeisten Vögel nachts verstummen, blühe ich erst richtig auf. In der Stille der Nacht, wenn kein anderes Geräusch meine Konzerte stört, ist es ein besonderes Erlebnis, mir zu lauschen. Gänsehaut pur garantiert. Daher nennt man mich auch die „Königin der Nacht“. Tatsächlich sind es aber nicht die Weibchen, sondern wir Männchen, die nachts singen.
Zwei Wochen vor den Weibchen kehren wir aus unserem Überwinterungsgebiet zurück. Habe ich ein geeignetes Revier gefunden, dann stecke ich all mein Herzblut in meinen nächtlichen Gesang, um die Nachtigall-Dame meiner Träume zu gewinnen. Irgendwo da oben am Sternenhimmel, befinden sich nun die Weibchen auf ihrem nächtlichen Vogelzug und ich hoffe, dass sich eine von ihnen von meinem Gesang magisch angezogen fühlt. Sollte ich nach dieser Nacht noch immer alleine sein, wiederhole ich meine Konzerte, Nacht für Nacht, stundenlang, und bleibe voller Hoffnung. Sobald ich meine nächtlichen Konzerte einstelle, ist dies ein Grund zur Freude, denn dann habe ich eine Gefährtin gefunden.
Die Nachtigall lehrt uns für unsere Herzensprojekte und für die Liebe alles zu geben. Sie lehrt uns an der Verwirklichung unserer Träume mit unermüdlicher Ausdauer und vollem Einsatz festzuhalten. Ihr unerschütterlicher Glaube an den Erfolg ihrer nächtlichen Gesänge dient uns als Vorbild und Antrieb, auch in den dunkelsten Momenten nicht die Hoffnung zu verlieren, sondern darauf zu vertrauen, dass die Erfüllung unserer Wünsche und Träume kurz bevorsteht.
Steckbrief Nachtigall
Länge: 15-16,5 cm
Lebensraum: dichtes Unterholz / Gebüsch, gern in Wassernähe
Brutplatz: Nest am Boden in dichtem Gebüsch
Nahrung: Insekten, Larven, Früchte und Beeren
Sommervogel (April-September), zieht im Winter nach Südafrika (Langstreckenzieher)
Bestand: nicht gefährdet (Rote Liste Deutschland)
Systematik:
Ordnung: Sperlingsvögel
Unterordnung: Singvögel
Familie: Fliegenschnäpper
Unterfamilie: Schmätzer
Gattung: Luscinia
Art: Nachtigall